Bekenntnisse und Bagatellen
Über die Musik des Mexikaners Sergio
Cárdenas
1
Lassen wir uns eine
Geschichte erzählen,
meine
Damen und Herren,
und lassen
wir zu, dass es eine schlimme Geschichte ist. Sie spielt in einem Land im
Umbruch, gesellschaftlich durch Parteiengezänk zerrissen, gelähmt von
Reformstau, betäubt von Beschwichtigungsparolen der Obrigkeit, geistig und
geistlich auf mancherlei Holzwegen irrend. Von einem Dissidenten handelt die
Geschichte, der nicht nur genug Zivilcourage hat, sondern auch den Zwang spürt,
den Mund aufzumachen gegen die herrschenden Schichten und den herrschenden
Zeitgeist. Hitzköpfig, wortgewaltig sieht er fünf Regierungschefs und ihren
Regierungskrisen zu; und sieht endlich sein Land, das eine unkluge
Bündnispolitik betreibt, von Feinden umschlossen. Der Rebell scheut sich nicht,
den Teufel an die Wand zu malen: die entschiedenste Friedenspolitik fordert er,
Appeasement, Demilitarisierung, kampflose Übergabe gar; anders sei dem
Totalverlust der nationalen Identität nicht zu wehren. Als Wehrkraftzersetzer
wird er festgenommen und unter entwürdigenden Bedingungen inhaftiert. Doch aufs
Furchtbarste behält er Recht mit seinen Prognosen. Das Land wird überrannt, die
Hauptstadt belagert und eingenommen, die Bevölkerung misshandelt oder getötet,
zerstreut und verschleppt. Der Widerständler zeichnet im Exil die
Denkwürdigkeiten seines Lebensweges auf und stirbt, fern der Heimat, die es
nicht mehr gibt.
Wie aus dem
20. Jahrhundert klingt die Geschichte. Und doch trug sie sich, so oder ähnlich,
vor über 2600 Jahren zu. Die Bibel erzählt sie uns: ihr Protagonist heißt
Jeremia - der Unglücksbote ist einer der „Großen Propheten“. Ein hoffnungsloser
Prophet, den der Lauf der Geschichte in all seinen Kassandra-Rufen bestätigte.
Auch Musik
erzählt diese Geschichte; Sergio Cárdenas, dem wir den heutigen Abend widmen,
erzählt sie uns. Und paradoxerweise, provozierend beinah steht über seiner
Partitur ein Titel, der den Predigten des biblischen Schwarzsehers
zuwiderzulaufen scheint: So I will hope. In seinem halbstündigen Oratorium für Solobariton, Chor und
Orchester - das die Symphoniker 1999 hier in Hof uraufführten - verbindet
er sechs Auszüge aus den „Klageliedern Jeremias“; die stammen zwar nicht vom
Propheten selbst, fanden aber mit gutem Grund unter seinem Namen Eingang ins
Alte Testament.
Tatsächlich
berichten sie ganz in seinem Geist von Gottes Strafgericht über ein gottloses
Volk: von der Zerstörung Jerusalems, dem Ruin des Staates Juda, der
Babylonischen Gefangenschaft unter Nebukadnezar. Bewusst inszeniert Cárdenas
die Unstimmigkeit zwischen dem Figurencharakter Jeremias und der Botschaft, die
schon gleich der Titel seines Werks verheißt: Hoffnung; Signal auch für unsere,
scheinbar aussichtslose Zeit. Die Botschaft, gewonnen aus Unheil, ist
Heilsbotschaft.
Dabei erzählt
der Komponist die schlimme Geschichte vollständig: insofern, als er dem Hörer
auch die Verzweiflung nicht erspart. Mehr noch: in deren tiefsten Abgrund führt
er ihn. Sozusagen mit dem auskomponierten Nichts hebt sein Oratorium an: ein
schmerzhaft hoher Geigenton, vereinzelte perkussive Akzente anderer
Instrumente; fahle Düsternis: klangliches Sinnbild für das verwüstete,
„verwitwete“, verwaiste
Leis
lamentierend setzt der Chor ein, wie gelähmt erst, später sich ereifernd.
Vorübergehend gibt das Orchester dem inneren Druck explodierend nach - und
beteiligt sich dann doch, auch mit einer Kantilene der SoloTuba, an den
Klageliedern der Vokalisten. Im zweiten Abschnitt ergreifen die Nachbarn
Jerusalems höhnend das Wort: eilfertig zerreißen sie sich die Mäuler über die
Zerschlagene. Das Schlagzeug beteiligt sich, der Chor klatscht in die Hände und
pfeift - ganz wie der Text das vorsieht -, und der Solobariton schmäht mit
einem Jazz-Gesang von hinterfotziger Fetzigkeit.
Solch
erbarmungslosem Zynismus widerspricht anschließend ein zu Tode beruhigter
Mitleids-Appell; dessen Tonsatz verflicht Cárdenas, von den tiefen zu den hohen
Streichern aufbauend, in einer Fugen-Kontrapunktik von barocker Dichte. Der
Chor schreit Jammer heraus - doch gleich darauf, in einem unvermittelten, dabei
wunderbar schlüssigen Übergang, signalisieren spätromantische Orchesterakkorde
trostreiche Milde: kündigen künftigen Trost an, während der Chor noch von
Tränen und Trübsal singt. Abermals mischt der Bariton sich ein - und wechselt
dafür die Rolle: nicht mehr als Zänker tritt er auf, sondern als
Gnaden-Verkünder in einer Meditation, nur von Harfenarpeggien impressionistisch
untermalt. So gibt er freundlich, friedlich das Signal zum Neuanfang, zum
Neuaufbruch, den der Chor, aufgeladen mit positiven Energien, im marschartigen
Finalsatz vollzieht. Am Ende steht festlich strahlende Harmonie in reinem Dur,
beharrend wiederholt, viele Male, unumstößlich. Aus Hoffnung wurde Heil -
„durch Nacht zum Licht“: es ist die alte, die gute Geschichte.
2
Noch nicht lange ist es her, ein Jahrhundert erst,
dass wir Europäer die Musik anderer Kontinente gebührend zur Kenntnis nehmen:
als Kunst. Freilich holten wir erschöpfend das Versäumte nach: überall präsent
ist heute die Musik Nordamerikas, die Popularmusik der USA dominiert weltweit,
aber auch ihre Kunstmusik spielt munter mit im globalen Konzert. Indes tönt von südlicheren Gefilden nicht eben viel bis
zu uns. Lateinamerikanische Komponisten - mit welchen verbinden wir eine
Hör-Erinnerung? Welche können wir auch nur aufzählen, spontan aus dem Kopf?
Zugegeben: die
Tango-Welle der vergangenen Jahre versorgt uns nicht nur mit Klischees von
schweißbeperlten Machos, die sich an spitzbrüstige Femmes fatales drängen; auch
die Begegnung mit dem grandiosen Astor Piazzolla bescherte sie uns und die mit
der unerwartet farbenreichen Klangwelt der Bandoneon-Kombos. Zugegeben: vom
Brasilianer Heitor Villa-Lobos kennen wir die rhythmischen Schwelgereien seiner
Bachianas Brasileiras, wohl auch sein Gitarrenkonzert - allerdings nehmen wir
den weit avancierteren Hauptteil seines Riesenœuvres nicht wahr. Und immerhin:
dass Alberto Ginastera, Argentinier wie Piazzolla, zu den Großen des 20.
Jahrhunderts gehört, durfte das Hofer Konzertpublikum vor Jahresfrist ahnen,
als ihm die Symphoniker mit seinem exquisiten Harfenkonzert kamen - wer aber,
von unverbesserlichen Enthusiasten abgesehen, wollte sich brüsten, sich schon
einmal seinen rauschhaften Balletten, den sperrigen Klavierkonzerten, seinen
meisterlichen, aber vertrackten Streichquartetten konzentriert ausgesetzt zu
haben?
Erst recht ist
uns Mexiko eine exotische Fremde: jenes Land, darin Sergio Cárdenas 1951 zur
Welt kam. Selbst Eingeweihte assoziieren hier am ehesten zwei Namen: Auf
Silvestre Revueltas mögen sie stoßen, der 1940 an einer Mischung aus
Verzweiflung und Trunksucht verendete, erst 41 Jahre alt. Als kämpferischer
Sozialist wie als Komponist war er ein Rebell; mit rhythmischer Vehemenz
schüttelte er die akademischen Vorschriften ab, vollzog in seiner Tondichtung
Sensemaya einen afrokubanischen Beschwörungsritus nach und beschwor in der
Nacht der Mayas die präkolumbische Vergangenheit der Urbevölkerung. Mit dieser Richtung neuerer mexikanischer Musik hat
Cárdenas‘ Schaffen allerdings nicht allzu viel zu tun.
Auch Manuel
Maria Ponce mag manchem
So dürfen wir
uns fragen: Kann uns jemand fremder sein als Sergio Cárdenas - ein
zeitgenössischer Tonsetzer aus Mexiko?
Er selbst vereinfacht uns die Sache. Denn er bleibt nicht
im Lande: er kommt zu uns. (Vergessen wir
nicht, dass er von 1985 bis 89 stabführend am Pult der Hofer Symphoniker stand.)
Als komponierender wie als ausübender Musiker wechselt er weltbürgerlich
zwischen Amerika, Europa, Deutschland: Cárdenas ist Internationalist. Seine
künstlerische Heimat ist keine Nation, sondern die Musik des 20. Jahrhunderts.
Freilich erfordert der Versuch, ihn hier zu platzieren, erst recht einige
Umsicht.
Das 19.
Jahrhundert hatte seinen überspannenden Epochenstil mit der Romantik. Das 20.
Jahrhundert hat solche ,Schule‘ nicht gemacht: in ihm reicht das
kompositiorische Spektrum vom Festhalten an romantischen Traditionen über die
Abschaffung der Tonalität bis hin zur Demontage des Klangmaterials überhaupt -
bis hin zum Verstummen von Musik. Auch in Sergio Cárdenas‘ Schaffen spiegelt
sich jene Aufsplitterung von Stil in viele Stile, die Abwechslung oder
Vermischung heterogener Ausdrucksmittel, das Zusammentreffen von überkommenen
mit neuen, experimentellen Modellen.
Jenen
Pluralismus veredeln wir gerne zu einer Epochenerscheinung: unterm Begriff der Postmoderne; und wir erkennen, dass in
ihm die Gefahr oberflächlicher Beliebigkeit lauert. Mancher Kulturkritiker tut
Postmodernes darum abschätzig als „Recycling“ ab. Andererseits dürfen wir
durchaus neutral dazu stehen, wenn wir „Recycling“ wertfrei übersetzen: als
Wiedergewinnung von Haltbarem aus einem Kreislauf heraus. Der Komponist Alfred
Schnittke fand dafür einen von mehreren tauglichen Begriffen: „Polystilistik“ - die Vielfalt
überlieferter und zeitgenössischer Schreibweisen in Gleichzeitigkeit. Cárdenas
weiß diese Fülle fruchtbar zu machen: indem er in seinen Werken für historische
Reibungen sorgt, sorgt er für aktuelle Spannungen zwischen Seelenzuständen.
Damit
widerspricht er jener allzu selbstherrlichen Fortschrittspartei unter den
Kunstschaffenden, die sich mit ihren Produktionen dem breiten
Publikumsgeschmack bewusst verweigern, weil sie ihn pauschal für flach,
genusssüchtig, kommerzverseucht halten. Auf sie zielt das populäre Vorurteil,
„moderne Kunst“ bleibe grundsätzlich schleierhaft und elitär. Ein Vorurteil ist
dies, weil sich ja auch das Gegenteil ereignet: weltweit machen Rundfunk und CD
Musik pausenlos für jedermann verfügbar - eine Entwicklung, die von der Musik
eine neue Verständlichkeit verlangt.
In deren Lager reiht Cárdenas sich ein.
Ein
,moderner‘ Komponist ist er gleichwohl. Auch in seinen Werken ist das gestrige
Grundgesetz der Dur-Moll-Tonalität vielfach aufgehoben. Die Dissonanz sehnt
sich nicht länger nach Auflösung und hat sich auch in seinen Partituren
vollständig emanzipiert. Die Partituren selbst verändern ihr Gesicht: die CD,
zu deren Präsentation wir uns zusammengefunden haben, enthält mit den zwei
Pfingstmotetten von 1975 Werke in grafischer Notation und mit aleatorischen,
also Zufalls-bestimmten Elementen; ihre Aufführungen werden also von Mal zu Mal
differieren.
Doch kehrt
der Komponist immer wieder zu ,romantischen‘ Vorstellungen von Konsonanz,
Wohllaut und Harmonie zurück. Den Rück-Schritt zu einer „Neuen Einfachheit“ -
im Sinne etwa Arvo Pärts oder Henryk Góreckis - vermeidet er freilich. Mit den
Reihentechniken des Komponierhandwerks ist Cárdenas selbstredend vertraut, aber
er unterwirft sich ihrer fantasiefeindlichen Mathematik nicht, sondern
verwandelt sie seinem Ausdruckswillen an. Denn Cárdenas‘ Musik drückt aus: als rein formaler Verlauf
genügt sie sich nicht, sondern gibt Auskunft, nimmt Stellung - sie erzählt uns Geschichten. So behauptet
sie sich als ,anspruchsvolle‘ Musik: als eine, die sich kraft ihrer
Substanzhaltigkeit die ungeschmälerte Anteilnahme der Sinne ausbedingt.
3
Ans Konzertsaal-Publikum wendet sich solche Musik in
der Regel. Dennoch sieht Cárdenas, einem weiteren Zug der Zeit folgend, über
die vermeintliche Kluft zwischen E- und
U-Musik hinweg. In seine Werke integriert er Elemente mittelamerikanischer
Folklore und ebenso ,nordamerikanische‘ Stilmittel der Improvisation, des Jazz
und Rock. Mal taucht dergleichen in Klangcollagen als Zitat auf und steht dann
für sich, mal bindet es sich bruchlos ins Ganze ein.
Nicht einmal die Maulfertigkeiten des Rap enthält der
Künstler uns vor. Stimmen von den hohen Bergen seines mexikanischen
Heimatdistrikts Tamaulipas ließ Cárdenas, als Dirigent eigener Werke, vor gut
einem Jahr in der Hofer Freiheitshalle laut werden: Da tigerte André Wilkens
durchs Publikum, übers Podium - der stadtbekannte Rapper mischte dem
orchestralen Rhythmusgemenge seine perkussive Stimme bei, trieb mit seinem
skandierenden Mund-Werk die Symphoniker an, entspannte sich mit ihnen in kurzen
Generalpausen - und legte von Neuem los: ein planmäßiges Sich-Abreagieren in
mehreren Anläufen. Biedert sich Musik hier wendig dem Zeitgeist an? Oder lässt
sich’s nicht auch verstehen als radikale Neuerfindung der „Gesangsszene“
klassischer Provenienz?
Sergio Cárdenas: in vielen Sätteln gerecht - kein wild
gewordener Umstürzler. In der Vielgestalt und Vielteiligkeit seiner Musik
drückt sich ein Wille zur Integration aus. Sie stellt Fragen an die Welt, aber
sie will sie nicht zersetzen. Der Mensch findet in ihr zu sich, geht nicht
fehl, kommt in ihr an ein Ziel. Einer Zeit, die uns so manchen Grund zur
Beunruhigung gibt, hält Cárdenas einen Gegenentwurf der Sinnfindung vor,
getragen von einem unüberhörbaren Grundton des Lebensgeistes und des Optimismus. Kein Werk könnte dies mit
seinem Hergang ersichtlicher belegen als So I will hope, die unheilschwangere,
Heil verkündende Jeremiade.
Selbst die
scheinbar abgetane Kategorie der Schönheit
findet wieder zu ihrem Platz und Recht. Freilich hat die Vokabel, wie Cárdenas
sie verwendet, mit gefälligem Schönklang und kulinarischer Genießbarkeit nichts
zu tun. Vielmehr meint er mit ihr - eigenem Bekunden zufolge - die „Ehrlichkeit“ eines künstlerischen
Anliegens und die freie Kraft, es auszudrücken. Das „richtige Gewicht“ gehört
dazu, „das jeder Ton an seinem Ort und im Verhältnis mit den anderen Tönen“
gewinnt. Und der Künstler versichert uns: Wo Tonkunst beanspruchen darf, in
diesem Sinn schön und aufrichtig zu sein, da entwickelt sie „gewaltige und
unwidersetzliche Wirkungen“, heilsam und reinigend. „Es gibt nichts Besseres
für den Menschen als Musik“, resümiert er sein Glaubensbekenntnis. „Man muss
ihr nur eine Chance geben.“
Sergio
Cárdenas gibt ihr eine Chance; und gibt jenen eine, die seine Musik hören. Den
Werken eignet eine eigenständige Tonsprache von gemäßigter Modernität sowohl
wie der Zug geradliniger Nachvollziehbarkeit. So komplex diese Tonsprache auch
formulieren mag - nicht als Konstruktion, sondern als Expression will sie erlebt werden. Seine Kunst ist poetische
Ausdruckskunst, nicht offiziöse Affirmation, sondern persönliches Bekenntnis.
Zu ihrem Anliegen tritt wiederholt der Impetus gläubiger Verkündigung -
durchaus im spirituellen, wenn auch nicht so sehr im kirchlich-liturgischen
Sinn.
Nicht erst im
Jeremia-Oratorium lässt sich dies beobachten, auch in der unorthodoxen, 15
Jahre älteren Fassung des 23. Psalms: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts
mangeln ...“, singt da der abenteuernde König David in einem getrosten Moment.
Bei Cárdenas indes singt kein Mann, sondern eine Frau: Als „Zyklus vier religiöser Lieder für Sopran
und Orchester“ führte er das Gebet aus. Der hohen Stimme gesellt er
vielerorts hohe Streicher bei; und noch das voll besetzte Orchester führt er in
weiten Teilen beinah kammermusikalisch. Verhaltenheit ist Ausgangspunkt im
ersten „Lied“ wie auch im abschließenden vierten mit seinem weitläufigen
Instrumental-Vorspiel. Nicht nur das gesungene Wort, auch das gesprochene macht
Cárdenas zum Träger musikalischen Ausdrucks; nicht nur als gesungener Text,
auch als textloser Ton ereignet sich Verkündigung. Feinnervig hat der damals
31-Jährige bereits dieses frühe Werk auf Klang und Farbe berechnet, subtil
verdichten sich darin die Atmosphären.
Auch dem
Psalm fehlen Klangballungen und -eruptionen nicht; doch behauptet er sich auch
in seinen heftigen Passagen als eine im Grundtenor lyrische Bekundung, während
das eher episch zu verstehende So I will hope mit der Zielstrebigkeit seiner
inneren, der Breite seiner äußeren Entwicklung auf ,Handlung‘ setzt. Dramatik
entfalten beide Werke, jedes auf seine Art.
4
Der Psalm - eine geistliche Solokantate? Die Jeremiade
- ein Oratorium? Wir sollten nicht übersehen, dass Cárdenas den Klage- und
Hoffnungsgesang, mit Absicht lapidar und vage, einfach als „Musik“
untertitelte. Um Sakral- und Vokalsymphonik eines Typus handelt sich’s, der mit
den Schablonen des 18., des 19. Jahrhunderts wenig mehr zu tun hat. Für die
geistlichen Gesänge der Enturia-CD macht sich der Komponist Gestaltungsweisen
der Motette, des Chorals, des Madrigals zwar zu Nutze, aber er bekräftigt sie
nicht fraglos, sondern wandelt sie ab: macht sie sich zu Eigen. An der Idee des
Werks als etwas Kompletten und
Abgeschlossenen hält Cárdenas fest; doch so wie sich seit dem 20. Jahrhundert
die Grenzen zwischen den Gattungen und Genres unkenntlich verwischen, so hält
auch er selbst sie offen.
„Musik“ also
als umfassendste, sinnfälligste, unbestreitbarste Bezeichnung eines
Tonkunstwerks: Bis zurück zu Béla Bartóks Musik für Saiteninstrumente,
Schlagzeug und Celesta oder zu den Musiken Rudi Stephans (für Geige, für
Orchester) lässt das denken - warum nicht gleich zurückgehen bis zu Händels
Wassermusik? Cárdenas bedient sich der bündigen Benennung noch einmal, für ein
Werk, das mit der Jeremias-„Musik“ immerhin den Umstand gemein hat, dass ein
Bariton darin als Gesangssolist figuriert und dass es das bekenntnishafte „Ich“
im Titel führt. Ich höre das Licht herzschlagen ist der 1999 vollendete Zyklus
überschrieben, der sieben Gedichte des mexikanischen Literaturnobelpreisträgers
Octavio Paz in spröde Töne übersetzt; ein Liederkreis also - doch zugleich ein
gestandenes Stück Kammermusik. Zwischen Textgebundenheit und absoluter Musik
hält es sich schwebend auf - und gehört mit seiner geschärften, an Brüchen
reichen, extreme Dissonanzen auskostenden Diktion gewiss zu den
fortgeschrittensten Schöpfungen in Cárdenas‘ Werkverzeichnis.
Vielfach
selbstständig voneinander agieren die Gesangsstimme, dazu Klarinette, Viola,
Kontrabass; vorübergehend vereinen sie sich, um alsbald wieder weit auseinander
zu driften. In höchste Tenor-, in tiefe Bassregister muss der Solobariton sich
wagen und zeitweilig gar in Knurren, Keuchen, Flüstern verfallen: dann wird er
selbst zum ,Instrument‘ jenseits der Sprache. Verschlossen, düster-nebulös
raunt Paz‘ Poesie - demgemäß gibt auch Cárdenas‘ Musik sich unwirklich und
schwer durchschaubar. Auf alle vordergründige Gefällig- und Versöhnlichkeit
verzichtet sie, besinnt sich - wie gerade für Kammermusik kennzeichnend - auf
ihre Strukturen, zieht sich in die Reflexion zurück. Dabei fällt ihr manches
ein, was einem nur beiläufig Hörenden unbequem klingen mag.
Und doch
scheut sie sich nicht, zu illustrieren: hintergründig lässt sie die
titelgebenden Herzschläge pulsen, und später seufzen Atemzüge, beklemmend
schwer. Einmal parodiert die Musik einen Walzer, ein andermal - am Ende -
zerfällt sie in brüchige, fahle Licht- und Schattensplitter. Einmal reduziert
sich der vokal-instrumentale Dialog auf eine Gesangslinie, angestupst von
Bratschen-Pizzicati; dann wieder insistiert der Bariton mit einem eckig
rhythmisierten, synkopierten Sprechgesang nach Art der Rap-Musik - eine
Stilanleihe, wie sie uns schon durch die Stimmen von den hohen Bergen vertraut
ist.
Lieder,
Texte, Poesie: Abermals geht es Cárdenas, wie so oft, um unmittelbaren
Ausdruck, um Botschaft. Abermals erzählt Cárdenas eine seiner Geschichten -
eine überraschend finstere diesmal -, aber er legt sich nicht darauf fest, dass
dies in jedem Fall ohne Umschweife, unzweideutig geschehen müsse. Alles
Plauderhafte, redundant Daherfabulierte steht ihm fern. In seinen Paz-Vertonungen
(die Enturia-CD enthält übrigens eine weitere) erstattet er dem Hörer Berichte,
deren Inhalt und Sinn im Verborgenen blühen, im Dunkeln bleiben. Den „Nebel“,
von dem unter anderem gesungen wird, lichtet er nie ganz. Und doch gibt auch
diese Musik, bei aller Sprödigkeit, ihr Wichtigstes im Kern nicht auf:
Anschaulichkeit, Bildkraft.
5
Vielfach ans Wort bindet Cárdenas seine Tonkunst. Was
Wunder, dass auch die ,absolute Musik‘ seiner Instrumentalwerke sich nicht zur
,abstrakten‘ Musik verfremdet. Gleichsam gegenständlich bleibt sie, handelnd,
erzählend, Klangrede.
Nicht zuletzt
von Cárdenas‘ lateinamerikanischer Herkunft erzählt sie - auch hierin einem
ausgeprägten Zug der Musik im 20. Jahrhundert folgend: Gerade in ihr fand ja
authentische Folklore, Volkskunst der gewachsenen, nicht gekünstelten Art, so
bindend wie nie zuvor Eingang in die Kunstmusik. Beispielhaft dafür stehen
etwa, auf der neuen CD, die Eingangs-„Melodie“ Aleluya, Alelú - oder auch zwei
kleinere, aber effektsichere Orchester-Piècen. Einmal die Grüsse aus Tamaulipas
von 1987 - eine akustische Ansichtskarte jenes heimatlichen Bezirks, von dessen
„hohen Bergen“ uns die schon skizzierte Rap-Komposition stimmstark berichtete.
Erst die große Trommel, dann die kleine, dann schnarrende Flöten und
Klarinetten führen uns einen Spielmannszug vor, alsbald schlägt die Stimmung
ins Saftig-Süßliche um, und die Streicher und das Blech intonieren einen Walzer
... Als dekorative Orchester-Etüde gebärdet sich El Queretano, wieder ein Tanz,
ein so genannter Huapango nun, brillant instrumentiert.
Lebendig
lärmende Themen und Motive Anderer verwendet Cárdenas hier (der Herren Guillén
und
„Bagatellen“
darf man dergleichen nennen - eine Bezeichnung, die in der
klassisch-romantischen Musik bekanntlich Tradition hat und nichts Abwertendes
besagt. Von solchen durch und durch romantisch-tonalen Produktionen fürs easy listening-Regal ausgehend, können
wir in ein belangvolleres Spannungsfeld überwechseln: dorthin, wo vielsagend,
gleichwohl im Ausdruck fasslich, mit Modernismen maßhaltend komponiert wird,
ähnlich wie es Dmitri Schostakowitsch tat, um nur irgendeinen Großen zu nennen.
Zu jener
hintergründigen Suite des Jahres 1998 führt der Weg, die unterm rätselhaften
Titel Scheuerloser Stoff firmiert und deren Satzüberschriften, hintereinanderweg
gelesen, beinah wie das Fragment aus einem kryptischen Gedicht von Octavio Paz
anmuten: Blauer Rauch im Halbdunkel,
Legende des Vollmonds, Ländliche Vitalität. Nachtstücke sind alle drei:
gedämpft im Rhythmus, schonungsvoll in den Energien, schattig und vielfach
abschattiert in den Farben, unterbrochen von Momenten des Innehaltens und
Sich-Besinnens, des Suchens vielleicht. Solo-Violine, später Solo-Viola wagen
sich hervor, ohne den eng geschlossenen Klangrahmen des Streicherensembles je
ganz zu verlassen. Was sich hier an Emotionen an- und entspannt und in
zeitweilige Bangigkeit sich versteigt, hat nichts Konventionelles und
Plakatives mehr, sondern findet zu eigener, glaubhafter Intensität - und
übrigens nicht zwingend zur Erlösung im Happy End.
Imponierende
Stimmungskunst: Sergio Cárdenas entfaltet sie hier mit vergleichsweise
bescheidenem, souverän beherrschtem Material. Vor allem durch kunstreiche
Steigerungen, unheimliches In-der-Schwebe-Halten tut er’s. Phasenweise - und
ganz ausgesprochen im Mittelstück - erinnert sie an den Deutsch-Amerikaner
Claus Ogermann und seine ,postmodern‘ lyrische Neusuche nach Schönheit in
Unschuld. Um Bagatellen, gepflegte musikalische Kleinigkeiten, handelt es sich
keinesfalls.
Auch nicht
bei der einsätzigen Fantasie Der geflügelte Bote für Flöte und Streicher von
1997. Aber doch hat ihr Schöpfer gerade sie als „Bagatela“ bezeichnet. Um was
für einen Boten handelt es sich wohl? Um einen Falter oder Vogel? Oder doch um
einen Gottes- und Himmels-Kurier, Seraph oder Cherubim? Jedenfalls hat er es
eilig: geschwind getragen wie vom Schwung des Windes formuliert die Flöte die
Botschaft ätherisch, duftig, flüchtig, trotzdem voller Wert und Wichtigkeit,
mit Ernst, aber kameradschaftlich. In einer schwebend-ausufernden Kadenz lässt
sie ihre Streicherbegleiter hinter sich, verlangsamt sich, dehnt ihren Tonraum
aus, verbreitet ihre Stimme als Atem von großer Tragweite.
Scheuerloser
Stoff, Der geflügelte Bote - nicht zufällig gab Cárdenas Werken wie diesen
derart sprechende Titel. Mit Wörtern etikettierte er sie, die durch ihre
Kombination eine Frage zu stellen scheinen und als Antwort vom Hörer die
Bereitschaft zum Denk-Spiel begehren; oder die in ihm bildhafte, bewegte
Vorstellungen evozieren. Nahe zur Programmmusik stellt sich solche ,absolute
Musik‘ vorsätzlich und steht also dazu, dass auch sie einen Stoff, eine
Handlung, womöglich gar eine Botschaft hat, einen Appell in sich einschließt -
auch dann, wenn sie ihn nicht mit der Autorität eines König David, dem Nachdruck
eines Jeremia an uns richtet.
Hören wir
also Sergio Cárdenas und seiner Musik zu: lassen wir uns eine Geschichte
erzählen. Nicht jeder Prophet kündet Unheil, und unter den Boten sind manche so
freundlich wie Engel.
Michael Thumser ist Kulturredakteur der
Zeitung „Frankenpost“, Hof/Saale.
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